Lob des Alters

Der Rost macht erst die Münze wert.

(Goethe, Faust II, 2. Akt)

 

Liebe Schachfreunde! Der Vereinsvorstand hat mich vor geraumer Zeit zum Ehrenmitglied des Schachvereins ernannt. In seiner Laudatio hat unser Vorsitzender diesen Akt mit meinen Verdiensten um den Verein begründet, eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Voraussetzung für die Ehrung. Feinfühlig hat Gerhard nämlich unterschlagen, dass Ehrenmitglieder ein - wenn auch unbestimmtes - Mindestalter aufweisen müssen, um dieser Ehrung teilhaftig zu werden. 

 

Nachdem mein Herz inzwischen an die 2,5 Milliarden mal geschlagen hat und ich, auf die 85 zugehend, immer noch an den Mannschaftskämpfen teilnehmen darf, drängt es mich, aus berufenem Munde einiges über diesen Lebensabschnitt zu erzählen, bevor es zu spät ist. Angeregt durch zwei Vorträge der Tele-Akademie 3Sat, deren Aussagen ich aus eigener Erfahrung weitgehend folge, habe ich meine Gedanken über das Alter in ein positives Gewand gekleidet und bitte um freundliche Aufnahme, auch als kleines Dankeschön für die Ehrung.

 

Die früheste Abhandlung über das Alter im abendländischen Kulturkreis stammt von Cicero, dem römischen Staatsmann, Schriftsteller und Philosophen, der von 106 - 43 v. Chr. lebte und dessen Schrift „Über das Alter“ als Krönung seines Lebenswerkes gilt. Unter Berufung auf den großen Plato definiert Cicero das Alter rein geistig-philosophisch; körperliche Beschwernisse sieht er ausschließlich als Angelegenheit der Medizin. Diese differenzierende Sichtweise wird erst im 18. Jahrhundert aufgegeben, nachdem Körper und Geist auch von neuzeitlichen Philosophen als gleichberechtigt und zunehmend als Einheit wahrgenommen werden.


Nach Cicero ist Altern ein Reifeprozess, ein Prozess der Läuterung, der in den Zustand reinen Geistes führt. Diesem Ideal nähert man sich mit wachsendem Alter; nicht nur als Person, sondern auch als Mitglied einer idealen Gesellschaft, in der die vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit/Besonnenheit und Weisheit gelten. Bei Ausübung der Tugenden geht es um die großen Dinge wie Autorität, Planung, Entscheidung, Verantwortung, Ethik, und nicht um Schnelligkeit, Behändigkeit, Beweglichkeit. Der alternde Philosoph überschaut das Leben, nimmt als Beobachter und Lehrer der nächsten Generation teil; weniger als Herrscher, wie noch in Platos Gelehrtenrepublik gefordert. In seiner Theorie hat er nicht nur sämtliche Belastungen des Alters überwunden, sondern sich behaglich im Leben eingerichtet: Philosophie ist die Medizin Ciceros.


Der Philosoph betrachtet das ganze Leben als Vorbereitung auf das Alter und das Alter selbst als Erntezeit. Die beste Waffe gegen Altersbeschwerden ist das kontinuierliche Ausüben der Tugenden. Wie nicht jeder Wein durch Altern sauer wird, so nicht jeder Charakter. Die volle Würde des Menschen entfaltet sich erst im Alter; den Greis umgibt eine Aura von Würde und Weisheit. Hat man lange genug tugendhaft gelebt, wird man wunderbare Früchte ernten und kann auf einen sanften Tod hoffen.


Altersweisheit und Staatsphilosophie ergänzen sich im römischen Senat (von „senex“ = der Alte). Unwillkürlich denken wir Zeitgenossen an Adenauer. In Platos Dialogen berät der alte Kephalos die werdenden Staatsdiener. Doch in der antiken Staatsrethorik/theorie wurde nicht Athen, sondern Sparta das Vorbild. Die dortigen Geronten (Greise) waren ursprünglich ein Ältestenrat, deren 28 Mitglieder mindestens 60 Jahre alt sein mussten. Da keine weitere Qualifikation erforderlich war, wurde diese Einrichtung vom späteren Aristoteles allerdings mit Hohn und Spott übergossen.


Reste der antiken Wertschätzung des Alters finden sich noch in unserem Grundgesetz: so muss ein Verfassungsrichter mindestens 40 Jahre alt sein, der Bundespräsident 45 Jahre. Grillenhaft dagegen die Anforderungen an den Bundeskanzler, der dieses Amt theoretisch bereits mit 18 ausüben kann.

 

Ein Umdenken beginnt in unserem Kulturkreis erst Ende des 16. Jahrhunderts mit dem Freigeist Montaigne, der in aller Klarheit und voller Resignation Krankheit und Tod als Widersacher von Weisheit und Würde erkennt. Und die französische Aufklärung samt Revolution ist Sache der Jugend; in ihrem Blick nach vorn spielt Altersweisheit keine Rolle. Van Swieten, der Leibarzt Maria Theresias, betont im 18. Jahrhundert die grundsätzliche Bedeutung einer gesunden Ernährung und Lebensweise als Voraussetzung für ein langes und erfülltes Leben. Schon vegan? Eier gehören allerdings noch als Symbol der Auferstehung zum Speiseplan; Wein nennt Van Swieten die Milch der Alten!

 

Auch im Altertum und Mittelalter gab es wohl einen natürlichen Wunsch nach langem Leben; seine Erfüllung lag aber mehr in Gottes Hand und war kein eigenes Thema, denn die jungen Menschen waren weitaus anfälliger für Krankheit und Tod als die Alten. Der Greis hatte bereits das Alter, das der Jüngling zu erlangen hoffte. Wer das Greisenalter allen Lebenswidrigkeiten zum Trotz erreicht hatte, besaß sozusagen eine unmittelbare und unantastbare Autorität als Vorbild, Lehrer und Erzieher. Die heutige Aufwertung des Körpers gegenüber Ciceros Ideal des Geistigen zeigt sich darin, dass die Tugendübungen von Turnübungen abgelöst werden.

 

Hat Cicero damit ausgedient? Keineswegs. Die Erkenntnisse der modernen Biologie und Gerontologie wecken große Hoffnungen auf ein erfülltes Leben im Geiste Ciceros bis ins höchste Alter. Nach Auffassung des Gerontologen Dr. A. Kruse kann man dabei - mindestens - drei Arten von Gestaltungsmöglichkeiten unterscheiden:

 

I Welche Möglichkeiten hat das Individuum selbst?

II Welche Möglichkeiten haben Gesellschaft, Politik und Kultur? 

III Welche Möglichkeiten haben Medizin und Bildung?

 

 

I Welche Möglichkeiten hat das Individuum selbst?

Der große Psychologe William Sterne hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Plastik eingeführt. Der Mensch ist kein Spielball seiner Umgebung und seiner genetischen Ausstattung. Beide Faktoren sind vielmehr Dispositionen, die uns Gelegenheit geben, unser Leben zu gestalten, unsere Entwicklung zu fördern, aber auch sie zu vernachlässigen. Die Person ist in ihrem gesamten Lebenslauf plastisch, hat die Möglichkeit, Potentiale zu verwirklichen oder zu unterlassen. Der römische Philosoph Plotin hat bereits ~ 300 n. Chr. unter ägyptischem Einfluss den menschlichen Lebenslauf mit einer Skulptur verglichen. Unsere Psyche/Seele arbeitet unablässig an dieser Skulptur, die ständig verfeinert wird. Wir tragen durch Handlungen, Entscheidungen, Perspektivenwechsel zur Entwicklung unseres Selbst bei. Allerdings werden wir im hohen Alter (80 +) mit der Verletzlichkeit unseres Körpers und unserer kognitiven Fähigkeiten konfrontiert, können aber trotzdem unsere weitere Entwicklung gestalten bis hin zur Palliativstation. Denn zum Glück leben wir in einer Gesellschaft, die (noch!?) von Respekt für alte Menschen geprägt ist und deren Eliten langsam erkennen, dass Menschen auch in gesundheitlichen Grenzsituationen noch Gestaltungspotential besitzen.


Unsere neuronalen Netzwerke weisen nämlich eine ausgeprägte Anpassungsfähigkeit auf, bis ins hohe Alter, die sogenannte Plastizität. Anpassungsfähigkeit heißt, die neuronalen Netzwerke reagieren auf Stimulation, auf Aktivierung. In einem Lernprozess ist z. B. die Geschwindigkeit, mit der die Erregungsabläufe über die Membran einer Nervenzelle verlaufen, in hohem Maße davon abhängig, inwieweit die Zelle kontinuierlich aktiviert wird. Die Präzision dieser Erregungsübertragung innerhalb eines Zellverbandes ist davon abhängig, wie intensiv ich diesen Zellverband respektive Lerngegenstand bearbeite. Bei genügender Intensität können sich sogar Synapsen neu bilden, so dass der entsprechende Zellverband immer komplexer wird. Wir merken das daran, dass wir immer komplexere Gegenstände lernen und repetieren können.

 

Solon, einer der sieben Weisen Griechenlands, staunte ~ 600 v. Chr. im Alter von 79 Jahren: „Ich scheine immer verletzlicher zu werden, aber ich werde alt und lerne jeden Tag Neues hinzu“. Aktuelle Forschungen bestätigen den Weisen mit der Erkenntnis, dass sich gerade im Bereich des Hippocampus, also der Gehirnregion, die für Lern- und Kontrollvorgänge entscheidend ist, sogar bis ins hohe Alter neue Nervenzellen bilden können, die sogenannte Neuroneogenese. Verluste auf der einen, Gewinne auf der anderen Seite!


Bei Betrachtung der individuellen Gestaltungsmöglichkeiten muss man auch die Frage nach den Vorläufern innerhalb unserer Biographie stellen. Ein wichtiger Vorläufer ist die genetische Ausstattung, die, wie bereits gesagt, kein fatales Schicksal, sondern eine Disposition ist. Ungesunde Lebensführung kann zu einer Anhäufung von Schädigungen in der Zelle führen. Es kann sogar zu einer Anhäufung von Schädigungen in der DNA selbst kommen. Die DNA kann diese Schäden relativ lange erkennen und korrigieren. Allerdings gehen bei jeder Kopie einige Informationen verloren, weshalb wir im Alter nicht mehr so jung aussehen, wie wir gerne möchten.
Wird die kritische Zeitschwelle jedoch überschritten, ist die DNA nicht mehr in der Lage, die auf ihr selbst liegenden Fehler zu korrigieren, so dass wir Probleme haben, den Anforderungen des Alltags gerecht zu werden. Auch Toxine und akute Erkrankungen können nicht mehr zuverlässig abgewehrt werden. Beide Akkumulationen haben also viel mit unserer eigenen Lebensführung und der unserer Vorfahren zu tun. Ungesunde Ernährung, Alkoholmissbrauch, Nikotinsucht und mangelnde Bewegung erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Fehlerakkumulation signifikant.

 

Der zweite wichtige - und ebenfalls beeinflussbare - Vorläufer in unserer Biographie ist die Umgebung, unser Umfeld. Hier sei an den großen jüdischen Gelehrten, Arzt und Philosophen des Mittelalters erinnert, Maimonides aus Cordoba, der 1135-1204 lebte und das Lob der Mitte verkündete. Es ist wichtig, dass wir immer die Mitte finden. Die Mitte in unserem Handeln und unseren Persönlichkeitseigenschaften, aber auch in unserem Verhalten. Nicht untertreiben, nicht übertreiben. Die Persönlichkeit muss zur Mitte kommen, zu sich selbst finden. Auf diese Weise erzeugen wir gleichsam automatisch ein gesundheitsbezogenes Verhalten, auf dessen Basis unser Organismus lebendig wachsen und zugleich genügend Schutzmechanismen gegen Krankheiten entwickeln kann.

 

Im Rahmen unseres biographischen Umfeldes ist es hilfreich, ja notwendig, Techniken zur Bewältigung der unvermeidlichen Konflikte auszubilden und kontinuierlich zu trainieren, damit die individuelle Lebensgestaltung gelingen kann. Wir müssen ein Gefühl dafür entwickeln, uns in unserer Umwelt heimisch zu fühlen; mit den Signalen aus der Umwelt und unseren Signalen in die Umwelt konstruktiv umgehen zu können. Bildung und soziale Netzwerke - nicht unbedingt die digitalen - fördern uns dabei.

 

Vor allem gilt es, offen zu bleiben. Offenheit ist die Fähigkeit des Menschen, sich gegenüber neuen Anforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten zu öffnen, und das auch in den Grenzsituationen unseres eigenen Lebens. Prof. Hans Thomae, der akademische Lehrer des heutigen Tele - Akademie - Autors Dr. Kruse, prägte einmal den tiefgründigen Satz: „Güte, Gefasstheit, Abgeklärtheit sind nicht nur Haltungen, die der Mensch dieser oder jener genetischen Anlage, dieser oder jener Umweltbedingung zufolge erhält, sie sind auch ein Anzeichen für das Ausmaß, in dem eine Existenz geöffnet blieb, also nicht zu Zeichen von Erfolg oder Misserfolg gerann, sondern so plastisch und beeindruckbar blieb, dass sie selbst in der Düsternis der Existenz den Anreiz zu neuer Entwicklung empfindet.“ Gerade im Alter kann ich neue Bereiche meiner Existenz, weitere Aspekte meines Selbst wahrnehmen (s.IId).

 

 

II Welche Möglichkeiten haben Gesellschaft, Politik und Kultur?

 

a) Gesellschaftliche Strukturen
Eine Hauptaufgabe der Gesellschaft ist die Schaffung von Gelegenheitsstrukturen, die Schaffung barrierefreier öffentlicher Räume, wo alt und jung zusammen kommen können, um sich über grundlegende Fragen des Lebens in Tat und Wort auszutauschen. Moderne Betriebe bilden heute schon Tandems aus alten und jungen Arbeitnehmern, mit deutlichem Gewinn für alle Beteiligten. Die Alten können ihr Expertenwissen weitergeben und lebendig halten, ihre Bewältigungsstrategien für Grenzsituationen des Lebens darlegen. In Hannah Arendts Hauptwerk 'Vita aktiva oder vom tätigen Leben', das in diesem Kontext von wesentlicher Bedeutung ist, lesen wir den schönen Satz: “Im Austausch mit anderen Menschen zeige ich mich in der Einzigartigkeit meines Seins, trete auf die Bühne des Lebens, gebe mich aus der Hand.“ Auch das Kloster Karthaus wäre ein solcher Raum, hätten wir Schachfreunde als soziales Netzwerk ganz banal mehr Zugriff auf den Fahrstuhl im Gebäude.

 

b) Abbau sozialer Ungleichheit
Die demographische Zukunft lässt eine zunehmende Altersarmut erwarten. Um so wichtiger ist es, allen alten Menschen einen ausreichenden Zugriff auf Bildungsgüter und ökonomische Güter zu ermöglichen, damit sie ein weitgehend unabhängiges und auch kulturell reiches Leben führen können. Die Minderung der Kluft zwischen wohlhabenden Ruheständlern und in prekären Verhältnissen lebenden Rentnerinnen, die ja häufig das Ergebnis abgebrochener oder nicht gelebter Biographien ist, wird eine der größten Herausforderungen unserer Politik in den nächsten Jahrzehnten sein. Ein hoffnungsvoller, in Brasilien bereits erprobter Ansatz ist das bedingungslose Grundeinkommen für alle. Das Recht auf ein solches Grundeinkommen wurde meines Wissens 2004 in die brasilianische Verfassung aufgenommen. In Quatinga Velho nahe Sao Paulo läuft ein erster Versuch; dort natürlich nicht mit monatlich 1000 €/Person, sondern den örtlichen Verhältnissen angepasst. In Finnland haben sich im Jahre 2015 70% der Bevölkerung für ein solches Einkommen ausgesprochen, in der Schweiz 2016 leider nur 30 %.
Die Finanzierung dieses Projektes wäre in Deutschland möglich durch den Abbau der hundert Subventionen im Sozialhaushalt des Bundes, ergänzt durch ein gerechteres Steuersystem. Die Gesellschaft müsste auch ihr Verhältnis zur Arbeit neu definieren; Begriffe wie „arbeitslos“ und „Frau am Herd“ könnten dabei ihren Makel verlieren.

 

c) Altersdiskriminierung in den Versorgungssystemen?
Die Frage, ob es bereits eine verdeckte oder offene Diskriminierung älterer Menschen mit Blick auf medizinisch-pflegerisch-rehabilitative Versorgung gibt, ist von existenzieller Bedeutung. Kein Bevölkerungssegment wird künftig quantitativ stärker wachsen als das der (85 +)jährigen. Forderungen nach einem Versorgungsausschluss dieses Personenkreises beruhen auf spekulativen Wert- und Vorurteilen, die empirisch unbegründet und ethisch verwerflich sind, so die Befunde maßgeblicher Gerontologen. Sie sind mit der im GG verankerten Würde des Menschen unvereinbar.

 

d) Kulturelle Deutung von Alter und Krankheit
In fernöstlichen Kulturen gibt es ganz andere Deutungen von Alter, Krankheit, Heilung als im Okzident. Im Osten ist alt nicht ausschließlich negativ besetzt, sondern bedeutet auch Wissen, Kreativität, Fähigkeit zur Mystik, Fähigkeit zur Verbindung mit Geistwesen. Indische Weise heben ihr Bewusstsein auf höhere Seinsstufen, entwickeln sogar ein kosmisches Bewusstsein wie im Westen allenfalls Meister Eckhart um 1200 n. Chr. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts entsteht im Westen die Theorie der Gerotranszendenz mit Betonung eines Perspektivenwechsels im Alter von einer materialistisch - rationalistisch definierten Weltsicht zu einer mehr kosmisch - transzendentalen Welt- und Lebensperspektive. Wir aufgeklärten und fortschrittsgläubigen Menschen sollten diese Sichtweise nicht vorschnell verwerfen angesichts der aktuellen Hilflosigkeit, in der sich unsere physikalischen Grundlagenforscher befinden, wenn es darum geht, die Wirklichkeit der Welt zu verstehen und zu erklären. Ich nenne nur die Stichworte 'Dunkle Materie' und 'Dunkle Energie'.
Dieser Blick über den Tellerrand wirft die Frage auf, wie wir die Würde eines Alten, eines Demenzkranken, eines Sterbenden bewerten. Dr. Kruse lässt sich von dem Satz leiten: „Keiner hat das Recht, die Würde eines anderen zu bewerten; die Würde ist dem Menschen qua Mensch gegeben“. Doch wie anders sieht die Praxis aus?

 

 

III Gestaltung durch Intervention


Wenn wir über Intervention sprechen, haben wir zusammenfassend im Auge die Gesundheitsförderung, die Therapie, die Prävention, die Rehabilitation, die Pflege, vor allem auch die Palliativpflege. Zentrale Bedingung für die Erhaltung körperlicher Leistungsfähigkeit auch im hohen Alter ist das Training der körperlichen und kognitiven Fähigkeiten. Kontinuierliches Training reduziert im Alter den Verlust grauer Hirnsubstanz ganz wesentlich. Gerade die Kombination von körperlichem und geistigem Training verlangsamt nach gerontologischen Befunden beispielsweise den Verlauf einer Demenzerkrankung merklich.
Auch chronisch Kranke können hervorragend symptom- und schmerzkontrolliert werden, so dass die Selbständigkeit eines Menschen erhalten bleibt: das hohe Anliegen der Gerontologie! Gerontologen postulieren geradezu die Fortsetzung von Reha-Maßnahmen bis in die End-Of-Life-Care.

 

Menschen im Sterbeprozess müssen nicht notwendigerweise liegen. Sie sollen sitzen, wenn sie können und wollen, stehen, wenn sie können und wollen. Die Erhaltung von Autonomie bis ans Lebensende soll ermöglichen, sich auf den Tod einzustellen, sein Sterben bewusst zu erleben und zu gestalten. Und wenn Sterbende nicht mehr verbal kommunizieren können, benutzt die sedierende Palliativpflege bereits Techniken der sensorischen Stimulation, der palpatorischen Stimulation, also des berührenden Handelns, um dem Sterbenden das Gefühl zu geben, dass Menschen um ihn sind, dass er nicht einsam und verlassen ist.

 

In mir klingt bei diesem Satz ein Aphorismus von Wilhelm Schäfer an:


Allein vermöchten wir das Grauen, aus dem ewigen Weltall durch unser
menschliches Bewusstsein für eine flackernde Sekunde abgesondert zu sein,
nicht aushalten,
wir würden vor Schreck daran verdorren.
Nur weil wir gleich den Halmen im Feld dastehen,
können wir miteinander auf den Schnitter warten und uns doch wiegen im Wind
und wärmen in der Sonne und den Saft der Erde trinken für unsere Frucht.

 

Dr. Kruse schließt seinen Vortrag mit den tröstlichen Versen von Ingeborg Bachmann:

 

Die große Fracht

Die große Fracht des Sommers ist verladen,
das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.
Die große Fracht des Sommers ist verladen.

 

Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
und auf die Lippen der Gallionsfiguren
trifft unverhüllt das Lächeln der Lemuren.
Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit.

 

Wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit,
kommt aus dem Westen der Befehl zu sinken;
doch offnen Augs wirst du im Licht ertrinken,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.

 

Die Metapher 'Sonnenschiff mit großer Fracht beladen' steht für ein erfülltes Leben, (doch die Lemuren als Schattengeister der Verstorbenen verwandeln das Sonnenschiff scheinbar in ein Totenschiff).
Die Metapher 'Befehl aus dem Westen, zu sinken' steht für das unvermeidliche Sterben (die Sonne geht im Westen unter).
Die Metapher 'im Licht ertrinken' steht für die Hoffnung auf ein neues Leben.
Und die Möwe heißt nicht Emma wie bei Christian Morgenstern, sondern symbolisiert den ägyptischen Totenvogel als Verbindung zum Jenseits.

 

Quellen: Tele-Akademie 3Sat vom 12. und 19. 6. 2016
Helmut Giering