Chess unplugged II

Die kürzlich vorgetragene Kritik des Silvo Lahtela an der computergestützten Eröffnungsvorbereitung war nicht das letzte Wort des Autors, der einen finnischen Vater und eine deutsche Mutter hat. Um mit Erich Kästner zu fragen: „Wo bleibt das Positive, Herr Lahtela?“ Der Untertitel seines Beitrags im Schachkalender 2012 gibt die viel versprechende Antwort: „Bauernbefreiung“.

 

Um den Mythos des Schachs als eines humanen geistigen Wettkampfes zu erneuern, muss ein Weg gefunden werden, die alles nivellierende Computervorbereitung zu entwerten, um den Schachspieler wieder individuell erkennbar zu machen. Die bisherigen Ideen hierzu leiden darunter, dass sie unnatürlich wirken und die Harmonie des Spiels stören. Das Fisher -  Schach (Chess 960) mit seiner Auslosung der Eröffnungsstellung z. B. erinnert an den Ausspruch Podolskis: „Fußball ist wie Schach ohne Würfel“ und verletzt die Harmonie der Grundstellung. Das Janus - Schach lässt unwillkürlich an Dr. Jekyll & Mr. Hide denken, es stört die Identität der Figuren. Rochadeverbot vor dem 10. Zug ist auch nicht das Gelbe vom Ei. Schach auf 3 Ebenen muss nicht sein, wo doch bereits unser normales Schach das menschliche Fassungsvermögen übersteigt.

 

Was also tun? Ein Blick in die Geschichte des Schachspiels ist hier hilfreich. Die letzte große Regeländerung vor rund 500 Jahren, die Umwandlung des alten Firzan/Wesirs in die moderne Dame, die nun statt ein Feld beliebig weit ziehen konnte, hat sich nach und nach wie selbstverständlich allgemein durchgesetzt, weil sie die Grundstruktur des Schachs nicht verletzte. Einer Legende zufolge könnte Jeanne d'Arc Anfang des 15. Jahrhunderts als Vorbild gedient haben. Und so stellte sich Silvo Lahtela nach langen Diskussionen mit Arno Nickel, einem der Herausgeber des Schachkalenders, unvermittelt  die Frage: Warum alles in der Welt darf ein Bauer als einziger Stein auf dem Schachbrett nicht rückwärts ziehen?

 

Und die Jahrhundert - Idee war geboren. Die vorgeschlagene Regeländerung, Bauern aufzuwerten, indem sie rückwärts ziehen können, dynamisiert das Schach auf völlig natürliche Weise, unter Wahrung der ursprünglichen Harmonie des Spiels. Folgende Sonderregelung soll dabei gelten: ein Bauer, der soeben vorgezogen hat, darf im darauf folgenden Zug nicht zurückziehen und umgekehrt, um eine bestimmte Art von Stellungswiederholungen zu vermeiden. Nach den bisherigen Testpartien der Erfinder kommen sinnvolle Bauernrückzüge eher selten vor, vielleicht 3 - 4 mal je Partie. Die stärksten Auswirkungen zeigen sich im Endspiel, beispielsweise bei der alten Oppositionsregel. Testspiele auf Großmeisterniveau sind in Planung.

 

Wer Näheres erfahren möchte, schaue sich den Artikel im Schachkalender an. Dort findet er auch 3 ausführlich kommentierte Diagramme zum Thema.

 

Helmut Giering, Dezember 2011