Geschichten aus dem Wörtersee: Die Uhr

Hallo Konzer Schachjugend! Bei meinen donnerstäglichen Bemühungen um Nachwuchsförderung kam kürzlich auch das Gespräch auf Schachuhren. In unserem geliebten Hobby verwenden wir mechanische Analoguhren, die wir jeweils von Hand aufziehen und einstellen müssen, sowie batteriebetriebene elektronische Digitaluhren. Was ist da der Unterschied?

 

Schauen wir uns zunächst einmal die beiden Wörter genauer an und erweitern dabei unseren Wortschatz. Ganz im Sinne der Konzer -  Doktor - Bürgerstiftung, die sich unter anderem mit ihren Lesepaten, zu denen  auch ich einmal gehörte, der Sprachpflege an den Grundschulen widmet.

 

Das Wort analog stammt aus der altgriechischen Sprache und bedeutet soviel wie verhältnismäßig, ähnlich, entsprechend. So steigt zum Beispiel die Quecksilbersäule im Thermometer analog der Wettertemperatur; der Bremsweg beim Auto fahren verändert sich analog der Fahrgeschwindigkeit; die Zeit, die wir im Laufe eines Tages erleben, verstreicht analog der Bewegung eines Uhrzeigers. Das Besondere an der Zeitmessung mit Analoguhren ist die Kontinuität: die Zeit wird stufenlos gemessen, stetig, gleichmäßig, ununterbrochen.


Das Wort digital stammt aus der lateinischen Sprache: digitus = Finger. Wenn ein Arzt „digital“ sagt, meint er „mit dem Finger“. Das aus dem Lateinischen abgeleitete englische Wort „digit“ bedeutet hingegen „Ziffer“, also ein Zahlzeichen. Die Zahl 2013 z. B. besteht aus den 4 Ziffern 0, 1, 2 und 3. Wie ist es zu diesem Bedeutungswandel vom Finger zur Ziffer gekommen? Nun, ganz einfach. Die Urmenschen, unsere Vorfahren, zählten - wie übrigens die Kinder heute noch - mit den Fingern. Anfangs nur bis zwei, was nahe liegt, denn wir haben zwei Hände, zwei Augen, zwei Ohren. Wenn früher mehrere Besucher einer Stammesversammlung (Thing) gesichtet wurden, meldete der Späher: „Da kommen zwei und bringen noch jemand mit.“ Eine bösartige Unterstellung ist allerdings die Aussage, die italienischen Carabineri gingen immer zu zweit auf Streife, weil der eine lesen und der andere schreiben kann.

 

Doch zurück zur Digitaluhr. Im Gegensatz zur Analoguhr wird hier die Zeit nicht kontinuierlich gemessen, sondern schrittweise „zerhackt“, anfangs im Minutentakt, dann gegen Ende der Partie in Sekundenschritten. Jede Sekunde springt die Zeitanzeige um eine Sekunde weiter. Und im Gegensatz zur digitalen Armbanduhr läuft die Schachuhr auch noch rückwärts. Nun kann jeder von euch die Frage selber beantworten, welche Art der Zeitmessung anschaulicher, übersichtlicher, angenehmer ist: analoge oder digitale Messung?


Eine andere Frage ist die nach der Zweckmäßigkeit! Mechanische Uhren „gehen“ nicht so genau wie Digitaluhren, etwa weil die Federspannung mit der Zeit nachlässt; man spricht auch von der Ganggenauigkeit solcher Uhren. Deshalb prüft man vor Beginn der Partie, ob die Uhr aufgezogen ist und stellt die Zeiger auf eine Minute vor 4 Uhr, damit die ersten beiden Stunden bis zur Zeitkontrolle (40 Züge in 2  Stunden laut Turnierordnung) mit Sicherheit eingehalten werden. Bei den Digitaluhren hingegen muss man darauf vertrauen, dass die Batterien während der Partie nicht ihren Geist aufgeben. Sie zeigen die Zeitüberschreitung allerdings sekundengenau an und erlauben auch die Anwendung komplizierterer Bedenkzeitregelungen wie z. B. den Fischer-Modus.

 

Die „Ziffer“ - also das Wort für Zahlzeichen -  hat eine ganz verrückte Entwicklungsgeschichte  und bedeutete ursprünglich „Null“. Wie ihr vielleicht wisst, kannten die alten Römer in ihrem Zahlensystem keine Null und hatten daher Probleme mit großen Zahlen. Die Inder haben aber nicht nur das Schachspiel, sondern auch die Null (sunya = Leere) erfunden. Dieses neue und sehr praktische Zahlzeichen kam dann im frühen Mittelalter über die Araber, die das indische Wort mit „sifr“ übersetzten, nach Europa. Später wurde das italienische Wort für Null „cifra“ durch das Wort für Nichts „nulla“ ersetzt. Auch im Deutschen verlor die „Ziffer“ damals ihre Bedeutung „Null“;  das Wort Null galt fortan für das Zahlzeichen 0, während das Wort Ziffer nun für alle Zahlzeichen von 0 bis 9 verwendet wurde. Ab dem 15. Jahrhundert treten Ziffern gemischt mit Buchstaben oder auch allein als Geheimschriften auf, die dann „entziffert“ werden mussten.


Bei Analoguhren kennen wir noch das Zifferblatt, diese kreisrunde Scheibe, an deren Rand die Ziffern angebracht sind. Der Kreis selbst wird in der Mathematik in 360 Grad eingeteilt, was auch wiederum mit der Zeitmessung zusammenhängt. Die Sumerer, die älteste Hochkultur in der Menschheitsgeschichte, hatten durch Beobachtung der Himmelskörper herausgefunden, dass ein Jahr ungefähr 360 Tage lang war - man spricht auch vom Jahreskreislauf -. Die fehlenden 5 Tage hat man mittels Schaltwochen oder -monaten ausgeglichen, wenn die Abweichungen des Kalenders von der Wirklichkeit, insbesondere vom Bauernkalender, zu groß wurden. Bei unserem modernen Kalender, der das Jahr in 365 Tage einteilt, brauchen wir die Abweichungen nur noch alle 4 Jahre und mit nur einem Tag zu korrigieren, durch Einfügung des 29. Februar.


Es ist auch kein Zufall, dass die 360 Jahrestage durch die 12 Tagesstunden ohne Rest teilbar sind; vielmehr ist das eine Folge des sumerischen sexagesimalen Zahlensystems. Fast alle modernen Versuche, den Tag in 10 Stunden oder den Kreis in 400 Grad einzuteilen, also die Umstellung auf unser Dezimalsystem, sind kläglich gescheitert bis auf die einzige mir bekannte Ausnahme: Im amtlichen Deutschen Vermessungswesen ist seit 1937 die Kreisteilung in 400 Grad (Gon) gebräuchlich, sowohl beim Rechnen als auch im Instrumentenbau. Für Geschichtsfreunde: diese Verwaltungsvorschrift musste nach 1945 nicht „entnazifiziert“ werden, weil sie nicht politisch motiviert, sondern rein praktisch begründet war.


Das im Titel dieser kleinen Geschichte stehende Wort „Uhr“ ist aus dem lateinischen Wort hora abgeleitet, welches soviel wie Zeit, Jahreszeit, Tageszeit, Stunde bedeutet. Die alte Bedeutung „Stunde“ klingt noch an in der Frage „Wie viel Uhr ist es?“, im Sinne von „welche Stunde zeigt die Uhr an?“ Die Bedeutung von Uhr als Zeitanzeiger oder Stundenmesser (wie viele Uhren hast du?) stammt erst aus neuerer Zeit.


Und nun viel Spass beim nochmaligen Lesen! Eine Geschichte, die man nur einmal liest, ist nicht Wert geschrieben zu werden. Wenn ihr diesen Artikel jedoch für langweilig oder uncool haltet, muss das nicht unbedingt am Geschichtenschreiber liegen. Den Titel habe ich übrigens von Robert Gernhardt geklaut, der viele seiner Gedichte und Bildergeschichten in dem Buch „Wörtersee“ versammelt hat. Ich habe in diesem Beitrag das Wort „Uhr“ aus dem Wörtersee gefischt. Von Gernhardt findet ihr auch ein Gedicht in unserer Homepage unter dies & das.

Helmut Giering