Temporalinsolvenz

Welcher Schachfreund hat noch nie zeitliche Insolvenz anmelden müssen - und sei es nur im läppischen 5-Minuten-Blitz, wenn der Blättchenfall die geniale Opferkombination ins Leere laufen ließ! Ist ja nur ein Spiel, sagt tröstend der Sieger. Aber ist Schach nicht auch Abbild des Lebens? Und im richtigen Leben ist Zeit gleich Geld, heißt es.

 

Machen wir die Probe aufs Exempel. Professor Dr. Hartmut Rosa hat der modernen Veränderung von Zeitstrukturen ein bemerkenswertes Buch gewidmet mit dem Titel „Beschleunigung“. Aus eigener Erfahrung klagt er mir im Alumnimagazin der Leibniz Universität Hannover sein Leid.

 

Als ich vor 2 Wochen entschieden hatte, einige meiner Verpflichtungen einfach nicht zu erfüllen, ließ der Druck des schlechten Zeit-Gewissens für ein paar Tage nach. Die Wirkung verpuffte jedoch wie die Rettungspakete für die Banken. Jetzt brauche ich eine Generallösung. Ich habe es versucht. Ich wollte ein guter Bürger, anständiger Familienmensch, teamfähiger Kollege, engagierter Lehrer, hilfsbereiter Freund und exzellenter Wissenschaftler sein. Ich habe mich bemüht, Zeit zu sparen, Arbeitsschritte zu verkürzen, Aufschub zu erbetteln, mein Tempo zu beschleunigen, habe seit Jahren den Urlaub ausgelassen, die Wochenenden zu Arbeitstagen gemacht, mir das Schlafen ab- und das Essen bei McDonalds angewöhnt: es reicht einfach nicht. Meine Zeitschulden wachsen immer schneller, der Rückstand wird täglich größer. Ich werde jetzt Insolvenz anmelden, Zeitinsolvenz. Der Konkursverwalter wird mir die Gläubiger vom Hals halten. Soll er doch entscheiden, wie viel von meinen 24 Stunden den Studenten, den Doktoranden, den Mitarbeitern, den Kollegen, der Fakultät, der Universitätsleitung, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den Freunden, dem Tennisclub, dem Musikverein und meiner Familie zustehen. Selbst wenn er mit aller Härte vorgeht: solange er sich nur an die Menschenrechtslinien von Amnesty International hält, wird er für meinen Eigenbedarf mehr Zeit übrig lassen müssen, als ich mir selbst in den letzten Jahren jemals genommen habe.

 

Der Professor war mir gleich sympathisch. Ich mailte ihm zurück, dass ich, Geodät des Jahrgangs 1932, mit dem Soziologen völlig d'accord gehe, dass aber einigen jüngeren Schachfreunden ihre Zeitprobleme über den Kopf wüchsen und ein Menetekel an der Wand unseres Spielsaals hilfreich sein könne. Darauf erlaubte er mir, seine Erkenntnisse als Warnung in den Newsletter aufzunehmen.

 

Die moderne Gesellschaft ist durch die notorische Beschleunigung aller Lebensbereiche gekennzeichnet. Wir alle müssen immer schneller laufen, um unseren Platz im sozialen Gefüge dieser Welt zu behalten. Wer ausruht, wird abgehängt. Ursprünglich träumten wir, das ökonomische Wettbewerbs- System würde uns so reich und stark machen, dass wir vom täglichen Existenzkampf entlastet würden, ein selbst bestimmtes Leben mit echten Lebenszielen führen könnten. Was für ein Irrtum! Die Ziele, die wir jetzt verfolgen, dienen vornehmlich dazu, unser soziales Überleben und unsere Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Dem einen fehlt dazu das Geld, dem anderen die Zeit, und immer mehr Menschen fehlt beides. Wer reich ist, lebt in ständiger Sorge, sein Geld zu verlieren; wer Zeit hat, wird bald finden, dass sie ihm gesellschaftlich entwertet wird, weil er als Überflüssiger im Hamsterrad nicht mehr mitlaufen darf.

 

Politiker und Ökonomen predigen fast alternativlos ihr Mantra von der Erhöhung der Wachstumsraten, doch selbst die Bäume wachsen nicht in den Himmel. Es gelte das Tempo zu beschleunigen, ein Turbo-Abitur zu meistern, Kinder früher ein- und auszuschulen. Kaum sind die Kinder auf der Welt, befürchten die Eltern schon, ihr Kind könne zurückgeblieben sein. Segnungen eines leistungsfähigen Wirtschaftssystems? Welch ein Hohn!

 

Was raten der Herr Soziologe und der Herr Geodät nun den Opfern der Beschleunigung? Noch heute Insolvenz anmelden! Aber bei wem? Nahe liegend ist eine gründliche Gewissenserforschung bei sich selbst. Beginnt doch einfach mit dem Zeitmanagement Eurer Turnierpartien: nie mehr Zeitnot!

 

Nachhaltiger ist philosophische Hilfe, zum Beispiel ganz bewusst häufiger mit der Bahn fahren. Viele Zeitgenossen verkennen immer noch den philosophischen Hintergedanken der Deutschen Bahn AG, nämlich durch ein ausgeklügeltes Verspätungssystem - ich bin, weil ich verspätet bin - und durch ausgefeilte Inkopetenz zu einer Kultur der Verlangsamung und Gelassenheit beizutragen, wie der Stoiker A. U. Sommer vor einigen Jahren ironisch bemerkte. Ein Gerücht ist hingegen, die DB lege Leichen aus der Pathologie auf die Gleise, um Verspätungen zu begründen.

 

Die Einschränkung der eigenen Bedürfnisse geht immer mit Zeitgewinn einher. Man braucht ja nicht soweit zu gehen wie Diogenes, der das Streben nach Freiheit & Bedürfnislosigkeit aufs Äußerste trieb, indem er seinen Trinkbecher fort warf, als er einmal einen Knaben aus der Hand trinken sah. Den großen Alexander beeindruckte er mit seinem Begehren - Alexander hatte dem verehrten Philosophen die Erfüllung seines größten Wunsches in Aussicht gestellt -, der Herrscher möge sich bitte nicht zwischen die Sonne und seine Behausung (die berühmte Tonne) stellen.


Giering-2013-01-23 klMein Favorit als Insolvenzverwalter ist Epikur. Er ist nicht so streng wie die alten Stoiker und verbindet das Streben nach Bedürfnislosigkeit mit einer heiteren Gelassenheit. Für ihn war Freundschaft wichtiger als Ehe und Nachkommenschaft: „Von allem, was die Weisheit für die Glückseligkeit des ganzen Lebens bereitstellt, ist der Gewinn der Freundschaft das bei weitem Wichtigste.“

 

Auch Sokrates hatte viel Zeit. Wenn er nicht gerade auf dem Marktplatz mit den Reichen und Schönen philosophierte, schlenderte er schon mal durch Athens Geschäftsviertel, wobei seine Bemerkung an einen Freund überliefert ist: “Sieh nur, wie viele Dinge die Athener zum Leben brauchen. Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf.“ Dies sagte er natürlich auf altgriechisch, dessen ich nicht mächtig bin. Zeit zum Lernen hätte ich schon.

 

In Erwartung kräftigen Widerspruchs grüße ich besonders die verheirateten Schachfreunde.

Helmut Giering